DIE ‚SAMMLUNG HÖLLERER‘

16.06.2020

Ein ‚Old-Shatterhand‘ der Südsee? Auf den Spuren einer Sammlung aus der Kolonialzeit mit Kustos Matthias Claudius Hofmann

In den Beständen des Frankfurter Weltkulturen Museums befindet sich eine kleine Sammlung ethnografischer Objekte aus Neuguinea. Diese wurde 1906, in den Anfangsjahren des Museums, angekauft und zählt zu den ältesten Beständen der Ozeanien-Abteilung. Heute sind noch rund hundert Objekte dieses Konvoluts unter dem Namen „Sammlung Höllerer“ erhalten. 

Das Rätsel der Sammlung
Die Objekte stammen aus dem nordöstlichen Teil des heutigen Papua-Neuguinea, das damals als ‚Kaiser-Wilhelms-Land‘ deutsche Kolonie war. Die Sammlung umfasst viele Alltagsgegenstände wie Schüsseln, Netztaschen, hölzerne Zierkämme und Schmuckstücke, Kleidungsstücke aus Rindenbast etc., aber auch verschiedene Waffen wie Steinkeulen und Holzschwerter. Dazu kommt noch eine große Anzahl von Ritualobjekten: Trauerkleidung, Schwirrhölzer und allerlei Zaubermittel. 

Während der alliierten Luftangriffe auf Frankfurt während des Zweiten Weltkrieges wurde 1944 das damalige Völkermuseum mitsamt aller darin verbliebenen Ethnografika – darunter auch 41 Objekte aus der Sammlung Höllerer – völlig zerstört. Überdies wurde auch die gesamte Sammlungsdokumentation Opfer der Flammen. Zusammen mit den Erwerbsakten gingen tragischerweise auch die Informationen über die Hintergründe und Geschichte dieser Sammlung in Rauch auf. 

Als ich begann mich mit diesen Objekten etwas näher zu beschäftigen, schien es mir zunächst eine schier unmögliche Aufgabe, Licht ins Dunkel der Sammlungsgeschichte zu bringen. Wo sollte ich ansetzen, um mehr über die Herkunft der Sammlung und vor allem etwas über den Sammler in Erfahrung zu bringen? 

Im Archiv
Die einzigen im Archiv des Museums erhalten gebliebenen Dokumente waren die Inventarkarten und das Inventarbuch, in das neu erworbene Objekte eingetragen werden und wo sie eine Inventarnummer bekommen; manchmal finden sich hier auch kürzere Einträge zum Erwerb. Auf den Inventarkarten werden die einzelnen Objekte genauer bestimmt: also worum es sich bei einem Gegenstand genau handelt. Die Maße und Materialien sind aufgelistet, die Funktion wird beschrieben und auch die Kulturregion, aus der es stammt, häufig ergänzt um eine Zeichnung oder ein aufgeklebtes Foto. In den analogen Zeiten handelte es sich hierbei immerhin um die grundlegenden Archivalien in der Museumsarbeit. In der Regel werden hier auch die Namen der Vorbesitzer und der Sammler vermerkt. 

Zum Vorbesitzer erfahren wir aus dem Inventarbuch, dass es sich um einen Architekten namens Höllerer (nach dem die Sammlung benannt ist) handelt, der 1906 die Objekte an das Museum verkauft hatte. Wesentlich bedeutsamer allerdings war ein Hinweis auf den Sammler: Ein (leider namentlich nicht genannter) Techniker der Neuendettelsauer Mission habe die Objekte zwischen 1904 und 1905 in der Gegend von Finschhafen gesammelt. Es ging nun darum diesen Hinweisen zu folgen und zu versuchen, die Identität des Sammlers herauszufinden!

Dem Sammler auf der Spur
Finschhafen ist eine Hafenstadt im heutigen Papua-Neuguinea, die 1885 als Handelsstation gegründet wurde, als der nordöstliche Teil Neuguineas als ‚Kaiser-Wilhelms-Land‘ Kolonie des Deutschen Reiches wurde. Die in Neuendettelsau bei Nürnberg angesiedelte Missionsgesellschaft hatte etwa zu dieser Zeit ihre Missionsarbeit unter den Einheimischen nahe der Stadt Finschhafen aufgenommen. Das Archiv der Mission war inzwischen in Nürnberg im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern untergebracht worden. Hier konnte ich neben vielen Dokumenten und Briefen auch die Mitarbeiter der Mission in Neuguinea für den besagten Zeitraum recherchieren. Es stellte sich heraus, dass nur einer hier in Frage kam: der Missionstechniker Hans Meier. Die Identität unseres Sammlers war somit gelüftet! Es fand sich im Archiv überdies noch eine Fülle an biografischen Angaben, Zeugnissen, Berichten und Briefen, aus denen ich viel über unseren Sammler in Erfahrung bringen konnte.

Hans Meier
Der Architekt Hans Meier (1876–1955) war von 1904 bis 1911 als Missionstechniker angestellt. Zu seinen Aufgaben gehörten der Haus-, Kirchen- sowie Wege- und Brückenbau. Als Landvermesser begleitete er die Missionare auf vielen, oft tagelangen Expeditionen ins unzugängliche Inland wie auch auf die umliegenden Inseln. Dabei profitierte er bei seiner Sammeltätigkeit von deren umfangreichen ethnografischen Kenntnissen. An einigen der Sammlungsobjekte sind kleine Etiketten angebracht, auf denen Meier den Ort, die Ethnie, den indigenen Namen des Objektes und häufig sogar eine kurze Beschreibung zur Funktion notiert hat.

Dass sich in Meiers Sammlung eine so große Anzahl von Kultgegenständen befindet, erklärt sich vermutlich dadurch, dass Taufkandidaten magische oder rituelle Gegenstände wie Schwirrhölzer als Zeichen ihres Übertritts zum Christentum öffentlich zerstörten oder den Missionaren aushändigten. Da Meier während der Zeit seiner Anstellung Neuguinea nicht verließ, hatte er wohl einen Vertrauten – den Architekten Höllerer – gebeten, die Sammlung in Deutschland für ihn zu verkaufen. Meier suchte offenbar nach Möglichkeiten, sein Salär über Nebeneinkünfte aufzubessern. Neben der Sammlung in Frankfurt verkaufte er nach seiner Rückkehr eine ähnlich umfangreiche an die Naturhistorische Gesellschaft in Nürnberg. 

Ein ‚Old-Shatterhand‘ der Südsee?
Schließlich gab es auch noch eine unerwartete Entdeckung: Im Archiv in Nürnberg fand sich ein Vermerk über eine Adresse Meiers in Passau aus dem Jahr 1952. Als ich eine Anfrage an das Melderegister des Passauer Stadtarchivs stellte, wollte ich eigentlich nur das Sterbedatum des Sammlers in Erfahrung bringen, um meine Provenienzforschung damit abzuschließen.

Es zeigte sich jedoch, dass Meier dort als „geographischer Schriftsteller“ unter dem Pseudonym Hermann Rönninger bekannt war und sein literarischer Nachlass – zusammen mit Fotos aus Neuguinea – im Stadtarchiv aufbewahrt wird. Ab den 1920er-Jahren veröffentlichte Hans Meier unter diesem Pseudonym eine Reihe von Abenteuererzählungen, vornehmlich in Groschenheften, sowie den vermeintlich autobiografischen Roman „In der Wildnis Neuguineas“. In diesen Schriften gab Meier vor, über seine Erlebnisse in Neuguinea zu berichten, wobei er aber seiner Fantasie freien Lauf ließ und Wirklichkeit mit Fiktion vermischte. Es handelt sich daher auch nicht um Berichte seiner tatsächlichen Arbeit in Neuguinea, sondern stattdessen um fantastische Geschichten über Goldsucher, Jäger und Abenteurer, die durch wilde Dschungellandschaften ziehen und sich in Auseinandersetzungen mit den Eingeborenen bewähren müssen. Er nannte sich später sogar nach seinem literarischen Alter Ego Meier-Rönninger und erklärte sich zum vermeintlichen Kolonialpionier, Goldsucher, Großwildjäger und Plantagenbesitzer, der durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf tragische Weise all seine Habe verloren hatte. Tatsächlich war er aber schon 1911 – lange vor Ausbruch des Krieges – im Streit von der Mission zunächst entlassen und dann auf Druck der Missionare zur Rückkehr nach Deutschland bewegt worden. Man wähnt sich beinahe auf der Spur eines „Karl May der Südsee“, der an seiner ganz eigenen Old-Shatterhand-Legende feilte. Folgt man den verschiedenen autobiografischen Zeugnissen, Briefen, Zeitungsinterviews und seinen Abenteuererzählungen – den, wie er behauptete, „Tatsachenberichten“ –, so erlebt man die allmähliche Transformation Hans Meiers in sein fiktives Alter Ego Hermann Rönninger. Ein Schriftsteller, der die eigene Biografie in einen Abenteuerroman umgeschrieben hat. 

Die  Sammlung ermöglicht uns Einblicke in das Neuguinea des frühen 20. Jahrhunderts und in die Missionsgeschichte während der deutschen Kolonialzeit. Im Sammler Hans Meier begegnet uns außerdem ein faszinierender bis zwielichtiger kolonialer Akteur dieser Epoche.

Matthias Claudius Hofmann,Kustos Ozenanien