INTERVIEW

"Menschliche Gemeinsamkeiten erkennen und kulturelle Unterschiede überwinden"
Die scheidende Direktorin Dr. Eva Raabe über ihren beruflichen Lebensweg

Von 1985 bis 2019 war Eva Ch. Raabe Ozeanien-Kustodin des Weltkulturen Museums Frankfurt am Main, dessen Leitung sie 2015 übernahm. Vor ihrem Eintritt in den Ruhestand Ende 2023 sprach sie mit uns über Freuden und Herausforderungen ihrer Karriere.

Weltkulturen News: Wie bist du zur Ethnologie gekommen?
Eva Raabe: Das Buch, mit dem ich Lesen gelernt habe, war eine für Kinder zusammengestellte Sammlung von Geschichten und Märchen aus Afrika. Meine Jugendlektüre war geprägt von Romanen, in denen Menschen anderer Kulturen im Mittelpunkt standen. Z. B. hat mich Anna Jürgens Buch „Blauvogel“ über einen weißen Siedlerjungen, der von Irokesen adoptiert wird, absolut gefesselt. Kulturell andere Lebensentwürfe haben mich fasziniert. Kurz vor dem Abitur 1976 habe ich die deutschen Rowohlt-Ausgaben von Büchern der bekannten Ethnologinnen Ruth Benedict und Margaret Mead im Bücherregal meiner Eltern gefunden. Dann habe ich überlegt, Ethnologie - damals hieß es noch Völkerkunde - zu studieren. Zusammen mit Schulfreundinnen bin ich nach Berlin gefahren, um die dort gerade neu gestaltete „Südsee“-Abteilung im Ethnologischen Museum in Dahlem zu sehen. Danach war ich absolut überzeugt, dass Ethnologie das richtige Fach ist.



Dr. Eva Ch. Raabe. Foto: Stefanie Kößling


WKN: Was hat dich zur Museumsarbeit und zu deinen Spezialgebieten Ozeanien und der zeitgenössischen Kunst gebracht?
ER: Ich habe mich 1977 an der Georg-August-Universität in Göttingen in das Hauptfach Völkerkunde eingeschrieben. Das ethnologische Institut besitzt eine umfangreiche alte Studiensammlung, die zum großen Teil von Georg Forsters Reise mit James Cook im Pazifik stammt. Es gab einige Lehrveranstaltungen, die in die ethnologische Museumsarbeit einführten. Man machte wissenschaftliche Objektbestimmungen und erarbeitete Führungen durch die Sammlung. Später habe ich auch als studentische Hilfskraft einen Katalog der Göttinger Ozeanien-Sammlung erarbeitet. Ich habe es als besonders stimulierend empfunden, die Kopfarbeit mit der praktischen Arbeit zu verbinden. Das Museum wurde darum mein Berufsziel. Der Ordinarius des Instituts, der auch mein Doktorvater wurde, war Ozeanist. Als ich mein Studium anfing, kam er gerade von einer Feldforschung aus Papua-Neuguinea zurück. Kulturwandel in diesem gerade erst unabhängig gewordenen Staat war ein wichtiges Thema in seinen Seminaren. So bin ich zur Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst gekommen. Es war interessant zu sehen, wie eine junge Künstlergeneration in Papua-Neuguinea mit europäischen Kunsttechniken Bezüge zu eigenen kulturellen Traditionen herstellte und sie neu interpretierte. Bereits nach dem Grundstudium habe ich dann Papua-Neuguinea bereist und mich besonders mit der zeitgenössischen Kunstszene dort beschäftigt. Dieses Thema hat mich dann auch im Museum, das ja nicht-europäische zeitgenössische Kunst sammelt, immer begleitet.

WKN: Wie hat sich dein Arbeiten im Laufe der Jahrzehnte verändert?
ER: Die ersten zwei Jahrzehnte meiner Arbeit, die 1980- und 1990er Jahre, waren geprägt von Veränderungen der Infrastruktur. Es wurde ein neues Magazin gebaut. Das war mit sehr viel praktischer Arbeit wie z. B. den Umzügen mit den Sammlungen verbunden. Das war noch im analogen Zeitalter – es gab keine Datenbank, in der man mit einem Klick den Standort eines Objekts aufrufen konnte, jede Karteikarte musste mit der Hand bzw. der Schreibmaschine geschrieben werden. Bis in die 1990er wurde das Layout der Publikationen noch manuell erstellt, für Abbildungen mussten von den analogen Fotos und Dias noch Repros bzw. Internegative hergestellt werden. Gleichzeitig begann der Weg von der Schreibmaschine über Word für Dos bis Windows. Auf Basis von dbase gab es zunächst selbstgebastelte Objektverzeichnisse. Ca. 2004 begann der Aufbau einer professionellen Datenbank! Das hat vieles erleichtert, war aber auch mit sehr viel Entwicklungsarbeit verbunden. Die Pflege einer gut funktionierenden Sammlungsdatenbank ist bis heute intensive Arbeit! Besonders einschneidend machte sich der digitale Wandel in der internationalen Kommunikation bemerkbar. Um Länder wie Papua-Neuguinea oder Brasilien zu erreichen, gab es nur den langwierigen Briefwechsel, das Fax oder wegen der Zeitverschiebung unter Umständen auch nachts zu führende Telefonate. Email war für uns eine Revolution! Auch inhaltlich befand sich unsere Arbeit ja in einer Entwicklung hin zu einem immer intensiveren Austausch mit zeitgenössischen Künstler*innen, indigenen Herkunftskulturen und internationalen Kulturinstitutionen. Ohne die Digitalisierung wären kollaborative Ausstellungen, so wie wir sie heute machen, gar nicht möglich.

WKN: Wie hast du Deinen Wechsel von der Kustodin zur Direktorin erlebt?
ER: Zunächst mal als ziemlich plötzliches, von vielen Konflikten begleitetes Ereignis. Es war niemals mein Ziel, Direktorin zu werden. Ich war gerne Ozeanienkustodin. Gleichzeitig war ich aber auch stellvertretende Direktorin, deshalb war es eigentlich eine Selbstverständlichkeit, bei Bedarf auch die kommissarische Leitung zu übernehmen. Als ich dann zur offiziellen Direktorin ernannt wurde, wusste ich längst, wie arbeitsintensiv die damit verbundenen Verwaltungsaufgaben sind. Der Abschied von der Arbeit mit der Ozeanien-Sammlung hat aber doch etwas weh getan. Bei der Personalführung hatte ich ganz klar einen Heimvorteil, ich hatte ja die Einsatzbereitschaft der Kolleg*innen schon über Jahre erlebt und hatte Vertrauen in das Team. Auf jeden Fall bin ich an der Personalverantwortung gewachsen. Man muss sehr stark an sich selbst arbeiten – sich bemühen, die eigene Persönlichkeit zurückzunehmen, nichts persönlich zu nehmen und Konflikte zu versachlichen.

WKN: Welchen Herausforderungen als Direktorin eines ethnologischen Museums begegnest du heute?
In den Museen waren die Haushaltsführung und der Kampf um finanzielle Mittel sicher immer schon eine Herausforderung. Das hat sich aber noch verstärkt, da nach der Pandemie, gleich mit dem Ukrainekrieg die Energieknappheit kam. Als größte Herausforderung empfinde ich aber die Stigmatisierung der Ethnologie, die heute mit der Diskussion um die Aufarbeitung der Kolonialzeit einhergeht. Da in der Öffentlichkeit alles mit dem Label „Raubkunst“ versehen wird, muss man immer wieder erklären, wie unterschiedlich die Herkunft der Sammlungen ist. Die Existenzberechtigung ethnologischer Museen wird vielfach in Frage gestellt. Völlig zu Unrecht, denn es war die Ethnologie, die spätestens mit den politischen Bewegungen der 1960er Jahre die Gleichberechtigung der Kulturen eingefordert hat und für die Interessen indigener Gruppen eingetreten ist. In der aktuellen, aufgeheizten Debatte muss man immer wieder intervenieren, sehr geduldig erklären, worum es in der Ethnologie geht, immer wieder auf die Arbeit der letzten 50 Jahre hinweisen, gerade im Fall Frankfurts auf die gemeinsame Arbeit mit zeitgenössischen Künstler*innen.

WKN: Gibt es ein Objekt oder eine Begegnung, die dich und deiner Arbeit besonders geprägt hat?
ER: In der Sammlung gibt es ein Bild des Malers Joseph Nalo aus Papua-Neuguinea, mit dem er eine Mythe von seiner Heimatinsel in der Manusprovinz erzählt. Es geht um eine Insel, die zur Strafe für den sündigen Lebenswandel ihrer Bewohner von einem mächtigen Hai verschlungen wird. Bei Nalos Besuch in Frankfurt 1992 tauschten wir Geschichten – auch die Mythe von der versunkenen Insel Leip gegen die Legende vom Untergang der nordfriesischen Stadt Rungholt! Danach diskutierten wir die Existenz von Meerjungfrauen. Auf meine Frage, wie die denn in Neuguinea aussehen, sagte er, ganz bestimmt genauso wie die in Deutschland – auf jeden Fall mit langen blonden, vom Tang grünlichen Haaren. 1993 malte er dann das Bild und schickte es zum Ankauf. Als ich es aufrollte, fiel mir zu allererst die Darstellung einer Seejungfrau mit langen gelbgrünen Haaren auf. Es war für mich viel mehr als nur eine Erinnerung an unsere Gespräche. Ich spürte daraus auch das Bekenntnis zu den menschlichen Gemeinsamkeiten, die kulturelle Unterschiede überwinden können. Seitdem habe ich bei der Arbeit in der Sammlung immer versucht, über solche Gemeinsamkeiten eine Verbindung mit Objekten und Bildern herzustellen.

WKN: Worauf freust du dich in deinem Ruhestand besonders?
ER: Ich verabschiede mich ja nicht von der Ethnologie, sondern nur von der institutionellen Arbeit. Ich kann mir die ethnologischen Themen aussuchen und mich wieder intensiv mit Ozeanien beschäftigen. Allerdings habe ich mir vorgenommen, keine festen Vorsätze zu fassen und nicht sofort feste Pläne aufzustellen. Ich freue mich ganz besonders auf eines –  einfach mal in den Tag leben und sich frei fühlen. Das kann sehr kreativ sein und zu erstaunlichen Ergebnissen führen!

WKN: Was würdest du als deine aktuellen Soundscapes bezeichnen?
ER: Spontan fällt mir da der Schaumainkai ein, der unter meinem Bürofenster verläuft. Besonders wenn am anderen Mainufer der Untermainkai gesperrt ist, herrscht Verkehrsstau in Sachsenhausen. Motorenlärm und Alarmsirenen werden zu einer permanenten Geräuschuntermalung meiner Arbeit. Im Sommer verändert sich die Soundscape auf ganz besondere Weise. Über den Geräuschen der Straße ertönen dann die schrillen Schreie der Mauersegler, die über meinem Bürofenster.



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