HERMANN SCHLENKER FILME IN DER SAMMLUNG VISUELLE ANTHROPOLOGIE

23.11.2021

Fotograf und Filmemacher Hermann Schlenker dokumentierte 1970 das viertägige Opferfest Ghanta Parab in Nordindien.

Bitte beachten: Der Film zeigt Szenen einer Tieropferung.



Vom Hang eines Berges herab ruht der Kamerablick auf einer Ortschaft. Zwischen den strohgedeckten Gebäuden laufen Menschen umher. Rufe, Klopfen und Vogelgezwitscher sind aus der Ferne zu hören. Die nächste Szene zeigt einen Fluss, in dem Frauen und Kinder Gefäße und Stoffe waschen. Mit jedem Wechsel der Kameraeinstellung scheint sich die Geschäftigkeit der Menschen zu steigern: farbige Armreifen werden angezogen, mit weiß- und ockerfarbigen Pulvern Zeichen auf den Boden gestreut, Gefäße bemalt und mit Blumen geschmückt, Messer geschliffen, Dachkonstruktionen errichtet. Allmählich scheinen diese Szenen des Vorbereitens in ein Fest überzugehen zu dem Blas- und Trommelmusik einsetzt. Im Zentrum der Aufnahmen stehen die tranceartigen Tänze und Gesänge einer Personengruppe, die farbige Gewänder und lange Haare tragen. Sie leiten eine Opferzeremonie an, für die Ziegen, Hühner und ein Wasserbüffel gefüttert, mit Reis beworfen und dann von Gesang und Tanz begleitet geschlachtet werden.

Die hier beschriebenen Filmaufnahmen entstanden auf einer Reise, die Hermann Schlenker im Jahr 1970 nach Odisha in den Norden Indiens führte. Zufällig, so berichtet Schlenker, traf er in dem Bergort nahe der Stadt Koraput ein, als die dort lebende Dorfgemeinschaft damit begann das Ghanta Parab Festival auszurichten. Gemeinsam mit einem indischen Ethnologen (Der Name wurde von H. Schlenker nicht übermittelt.) dokumentierte Schlenker fotografisch und filmisch das viertägige Opferfest, das gefeiert wird um Gottheiten zu besänftigen, die für die Pockenkrankheit verantwortlich gemacht werden. Beide berichten eindrücklich von den Personen, deren Tänze, Gesänge und Segnungen während der Festlichkeiten eine zentrale Rolle spielten. Während der indische Ethnologe sie in den Aufzeichnungen „Bejuris (spirit possessed woman)“ nennt, bezeichnet Schlenker sie in seinen Tagebuchaufzeichnungen als „Hijras“.

Hijras sind eine Minderheit, die vorwiegend in Großstädten Indiens und Pakistans gemeinschaftlich zusammenleben. Im Rahmen einer Entscheidung zu Rechten von Transgender-Personen wurde ihnen 2014 in Indien der Status eines „dritten Geschlechts“ zuerkannt. Sich selbst bezeichnen Hijras häufig als „weder Mann noch Frau“. In den meisten Fällen wird ihnen bei Geburt ein männliches Geschlecht zugewiesen, das sie mit dem Eintritt in eine Hijra-Gemeinschaft, dem Eingriff einer Penektomi, sowie ihrem weiblich gelesenen Erscheinungsbild zurückweisen. Ihr Ansehen in der indischen Gesellschaft ist widersprüchlich. Aufgrund ihres nicht-binären Seins wird Hijras eine besondere Beziehung zu Gottheiten zugesprochen. Aus diesem Grund werden sie als rituelle Performerinnen für Feste wie dem Ghanta Parab Festival engagiert. Andererseits sind Hijras im Hinblick auf medizinische Versorgung, Bildung und Beruf struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Während im präkolonialen Indien diverse Geschlechtsentwürfe wie die der Hijras in Religion und Kultur Anerkennung erfuhren, werden die prekären Lebensverhältnisse, in denen sie gegenwärtig leben, auf die Kolonialzeit und die Etablierung eines normativen Zweigeschlechtermodells zurückgeführt.

In der kritischen Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Indiens und der Diskussion um den Status von Hijras als Transgender-Personen gewinnen die Filmaufnahmen Hermann Schlenkers an Aktualität. Seine Filme zu erforschen bietet die Möglichkeit sich vielstimmig mit Themen wie Genderdiversität, (Post-)Kolonialismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen.

Der inzwischen 89 Jahre alte Fotograf und Filmemacher übergab im Jahr 2020 neben diesem Film mehr als 100 weitere an das Weltkulturen Museum. Er ließ die Filme neu schneiden, bearbeiten und digitalisieren. Mit dieser Spende wird nicht nur die Sammlung Schlenker ergänzt und vervollständigt, sondern auch die wissenschaftliche Forschung und Lehre der Visuellen Anthropologie am Weltkulturen Museum bereichert. 

Von Lea Steinkampf