DAS KOSTBARE UMARMEN

08.06.2021

Künstlerische Positionen zu den Boarding Schools in den Amerikas

Schockierende Knochenfunde in Gräbern auf ehemaligem Internatsgelände in Kanada rücken das Thema Internatsschulen für First Nations Kinder ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. 

Nicht nur in Kanada, auch in den USA und vielen Ländern Mittel- und Südamerikas wurden Kinder Indigener Herkunft über Jahrzehnte systematisch von ihren Familien getrennt und in Internaten entfernt von der Heimat erzogen. Sie wurden dort gezwungen, ihre indigene Kultur und Sprache aufzugeben, mit dem Ziel sie in die Nationalgesellschaften zu integrieren.

Auf dem Gelände einer solchen ehemaligen Boarding School in Kanada wurden nun die Überreste von 215 Kindern entdeckt. Das ehemalige Internat bei Kamloops, das von der katholischen Kirche im Auftrag der kanadischen Regierung betrieben wurde, war eines von 139 solcher Einrichtungen. Die letzte dieser Art schloss erst 1996. Im Jahr 2008 hatte sich die kanadische Regierung offiziell für das System der Internate für First Nations entschuldigt und zahlte den Überlebenden und Hinterbliebenen Wiedergutmachungen. Sie seien Opfer eines „kulturellen Genozids“, stellte eine Untersuchungskommission im Jahr 2015 fest. Der Appell an Papst Franziskus im Jahr 2018, sich ebenfalls für das unmenschliche System zu entschuldigen, wurde abgewiesen.

Vernachlässigung, Hungertot, medizinische Experimente, Misshandlungen, Tot auf der Flucht, menschliche Kälte – viele Kinder überlebten die Zeit im Internat nicht. Unter den Übrigen werden erhöhte Selbstmordraten, Alkoholismus und häusliche Gewalt als lebenslange Folgen den Unterdrückungen in diesen Internaten zugeschrieben.

Die kanadische First Nation Rapperin Christie Lee Charles spricht im Filminterview „Let Them Speak“ (2020) von Ihrem Onkel, der aus bis heute ungeklärten Gründen nie aus dem Internat zurückkam. 

Die US-amerikanische Eastern Band Cherokee Künstlerin Shan Goshorn (1957-2018)prangerte diese Zustände in Worten an und erschuf das Kunstwerk „Embracing the Precious“ das eigens dieser Thematik gewidmet ist. Sie bezieht sich auf die Carlisle Indian Boarding School die erste dieser Einrichtungen, die auch ihre Großmutter besucht hatte. „Kill the Indian, Save the Man“ war einer der Leitsätze dieser Schule. Shan Goshorn erzählt: „Bei der Ankunft erhielten alle Kinder den gleichen Haarschnitt, Uniformen und mussten sich an militärähnliches Verhalten anpassen. Bestrafungen - die streng und häufig sein konnten - wurden für Verstöße wie das Sprechen von Muttersprachen oder anderweitige ‚indigene Handlungen‘ verhängt. Ohrfeigen, Prügel und Schläge waren keine Seltenheit.
In diesen Korb habe ich die persönliche Erinnerung meiner Großmutter an das Internat aufgenommen [blassblaue Streifen]. Die blaugrünen horizontalen Streifen enthalten ein Cherokee-Gedenklied, das grob übersetzt heißt: Wir erinnern uns an deine Opfer, du wirst nicht vergessen.“ Das Innere des Korbes trägt die Namen tausender Schüler, die sie von der Schülerliste der Carlisle Indian Boarding School entnommen hatte. Sie webte diesen Korb in einer Form, die an eine Umarmung erinnert.
Diese künstlerische Arbeit hebt das Unrecht an den Kindern aus der Vergangenheit in die Gegenwart und macht lange verborgenes, geheim gehaltenes Wissen für alle zugänglich. 

Shan Goshorns Werk Embracing the Precious ist bis 5. September 2021 in der Ausstellung „HIDDEN IN PLAIN SIGHT. Vom Unsichtbarmachen und Sichtbarwerden“ im Weltkulturen Labor zu sehen.