VON LICHT UND SCHATTEN: DAS JAVANISCHE WAYANG KULIT

11.05.2020

Über das javanische Schattenspieltheater
Von Vanessa von Gliszczynski, Kustodin Südostasien

Das javanische Schattenspieltheater Wayang Kulit fasziniert seit Generationen Ethnologen, Musikwissenschaftler sowie Indonesien-Liebhaber und Touristen. Während Wayang Kulit Aufführungen früher eine ganze Nacht lang gespielt wurden, passt sich die Aufführungsdauer der epischen Geschichten heute oftmals der Schnelllebigkeit des medialen Zeitalters an. 

Ende 2019 erhielt das Weltkulturen Museum von der Kronberger Sammlerin Annegret Haake eine Schenkung von rund 200 Wayang Kulit Figuren, welche die bereits bestehende Sammlung ergänzen und durch eine detailreiche Dokumentation zur Identifizierung der zahlreichen Wayang-Charaktere beiträgt. Für das uns ist dies ein willkommener Anlass, das Wayang Kulit genauer vorzustellen. 

Ursprung

Das Schattenspieltheater Wayang Kulit ist vor allem auf der indonesischen Insel Java beheimatet, insbesondere in den Sultansstädten Yogyakarta und Surakarta, deren Stile sich teils auch unterscheiden. In Surakarta tragen die göttlichen Figuren z. B. Jacke und Schuhe, in Yogyakarta nicht. Das Wayang Kulit selbst durchlief im Laufe seiner jahrhundertelangen Geschichte zahlreiche Veränderungen und ist eine Mischung aus indischen, islamischen und javanischen Elementen. Die Geschichten und Charaktere des Wayang Kulits sind hauptsächlich aus den altindischen Epen Mahabarata und Ramayana entlehnt. Allerdings wurden sie an einigen Stellen „javanisiert“ und durch eigene Charaktere ergänzt: Zum Beispiel der beliebte Spaßmacher Semar – selbst ein Gott und treuer Begleiter der Pandawa-Brüder aus dem Mahabarata – kommt im indischen Epos nicht vor. 

Geschichten als Spiegel der Welt

Hinter dem Wayang Kulit und den darin präsentierten Charakteren verbirgt sich eine ganze Kosmologie, auf die – mit abnehmendem Maß – auch im Alltag und der Popkultur verwiesen wird. Aus javanischer Sicht bilden die Geschichten des Wayang Kulit das Universum ab. Traditionell werden die Geschichten dem Anlass der Aufführung angepasst: Eine Liebesgeschichte zur Hochzeit, eine Geschichte über das Mann-Werden zu einer Beschneidung. Die Geschichten beeinflussen das Geschehen auf der Erde, sie sind ihr Spiegel. Deshalb wird auch das Finale des Mahabarata – die Schlacht zwischen Pandawas und Kurawas, bei der das große (javanische) Königreich Astinapura untergeht – nicht aufgeführt, aus Befürchtung die javanischen Sultanate könnten untergehen. 

Die Charaktere

Ebenso wie die Ereignisse in den Epen, aus denen immer nur Auszüge gespielt werden, als Spiegel des Universums gelten, sind die darin vorkommenden Charaktere Identifikationsmodelle für die reale Welt. Während heute nicht mehr alle Details gelehrt werden, konnte noch vor 50 Jahren jedes javanische Kind das Aussehen, den Charakter sowie die Eigenschaften der Figuren beschreiben. So war für jeden Charakter in der realen Welt ein Bezugspunkt vorhanden: Arjuna zum Beispiel ist für viele ältere Javaner der Idealtyp eines Mannes. Ein guter Krieger, mit feinem Körperbau aber sanftmütig und fähig zur Askese. Der Gott Kresna wiederum gilt als sehr intelligent und großartiger Stratege, aber auch als Lügner und Intrigant. Bei den Frauen stehen sich Dewi Sumbarda – die elegante, unterwürfige Dame – und Dewi Srikandi – die kämpferische, aktive Frau – als Idealtypen gegenüber. 

Licht, Schatten, Farben

Auch wenn das Wayang Kulit heute oft als ein Kampf von Gut gegen Böse dargestellt wird, sind die Grenzen hier doch fließend. Alles hat zwei Seiten. Und so ist es auch üblich, während einer Aufführung von der Seite des Schattens auf die des Lichtes zu wechseln, um eine andere Perspektive einzunehmen. Dies erklärt auch, warum die Figuren so bunt sind. Denn es geht nicht nur um die Schatten, es geht darum, dass die Farben und Ornamente der Figuren ihren Charakter erklären und bestimmen. Ein Thema, das in unserer nächsten Ausstellung ab Frühjahr 2021 thematisiert wird.

Weiterführende Literatur zum Thema Wayang Kulit finden Sie in der Bibliothek des Weltkulturen Museums